Zwei einsame Mülltonnen stehen ganz am Ende der 160 Meter langen Sackgasse in Katemin. Der gepflasterte Weg ist dicht gesäumt von Hecken, Zäunen und Mauern der unmittelbar angrenzenden privaten Vorgärten. "Es nützt ja nichts, wir müssen da rein", sagt Andreas Schulze. Der Müllwerker arbeitet seit 33 Jahren bei der Abfallwirtschaft des Landkreises Lüchow-Dannenberg, als sogenannter "Lader". Zusammen mit einem zweiten Kollegen steht er auf der Straße und winkt, damit der dritte Kollege, der Fahrer, das Abfallfahrzeug in die schmale Gasse bugsieren kann. Natürlich rückwärts. Denn eine Wendemöglichkeit gibt es nicht.
Kurz versperrt das rund 20 Tonnen schwere Gefährt die angrenzende Straße dafür komplett. Dann geht es nur noch im Schneckentempo rückwärts hügelan. Andreas Schulze und sein Kollege gehen zu Fuß voraus. Tatsächlich könnte das Fahrzeug gar nicht rückwärtsfahren, wenn die beiden Lader hinten auf dem Fahrzeug stünden: "Aus Sicherheitsgründen blockiert das Fahrzeug den Rückwärtsgang dann automatisch", erklärt Schulze.
Rund 580 solcher Rückwärtsfahrstrecken - zwischen 30 und 500 Meter sind sie lang - bedienen die Müllfahrzeuge der Landkreises aktuell, um die grauen Restmüll-Tonnen direkt vor dem Haus der Anwohner zu leeren. "Aktuell steht jede einzelne dieser Strecken auf dem Prüfstand", erläutert der Leiter der Abfallwirtschaft Martin Unterste-Wilms. Der Grund: Im gesamten Bundesgebiet kommt es auf solchen Strecken immer wieder zu schlimmen Unfällen. „Toi, toi, toi, bei uns noch nicht“, sagt Unterste-Wilms. Schon seit den 1980er Jahren empfiehlt die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), das Rückwärtsfahren von Abfallfahrzeugen komplett zu unterlassen. 2017 konkretisierte die DGUV mit der „DGUV Regel 114-601“ die notwendigen Arbeitsschutzmaßnahmen in diesem Bereich. Nach einem schlimmen Unfall mit Todesfolge im Landkreis Lüneburg kurz darauf war Unterste-Wilms klar: "Wir müssen da ran." Trotz eines Einweisers war in Lüneburg ein Passant mittig unter ein Müllfahrzeug gekommen und getötet worden. Der Fahrer wurde zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt. Schlimmer noch: bis heute leidet er an den psychischen Folgen des Unglücks.
Lange Datenkolonnen flimmern über den Computer-Bildschirm von Michael Panknin. Seit dem Sommer ist der Mitarbeiter der Abfallwirtschaft mit einer halben Stelle damit befasst, die 580 Rückfahrstrecken zu evaluieren. Das heißt: Er fährt raus, geht die Strecken systematisch ab und vermisst sie entsprechend der Vorgaben der DGUV. Im Kofferraum immer dabei: eine Restmülltonne. Mit dieser prüft er, ob es einen alternativen "Aufstellplatz" für die Mülltonnen geben könnte, sprich: ob die Tonnen an einem anderen Ort bereitgestellt werden können, den die wuchtigen Fahrzeuge vergleichsweise eleganter und vor allem sicherer anfahren können. Und: Er spricht mit jedem einzelnen Anwohner persönlich, um zu erklären, was er da tut – und warum. Manchmal begleitet ihn der Bürgermeister bei diesen kurzen Hausbesuchen.
"Viele Anwohner sehen das Problem sofort und zeigen großes Verständnis", erklärt Panknin. Aber natürlich seien noch viele Fragen offen: Könne man beispielsweise älteren Menschen zumuten, ihre gefüllte Tonne über lange Strecken die Straße hinunter zu rollen? Bei seinen Fahrten durch den Landkreis hält Panknin darum immer auch nach pragmatischen Lösungen Ausschau: Gibt es beispielsweise die Möglichkeit, die eigene Tonne mit Einverständnis der Nachbarn über deren Grundstück zu einem alternativen, besser erreichbaren Platz zu rollen? Können die Abfallfahrzeuge möglicherweise Wendemöglichkeiten auf privatem Grund nutzen? "Wir hoffen sehr auf die Bereitschaft zur Nachbarschaftshilfe", erklärt Panknin, „und auf die Unterstützung der Bürgermeister, um gemeinsam gute Lösungen zu finden“. Bis jetzt hat Panknin 70 Strecken ausgewertet, die meisten davon bisher im Nordkreis. Bis 2022 sollen zu allen Strecken Ergebnisse vorliegen. Jeder Fall werde individuell geprüft, verspricht Martin Unterste-Wilms.
Ein wichtiger Hinweis: Von der Überprüfung der Rückwärtsfahrstrecken sind nicht nur die Restmüll-Touren betroffen, sondern auch die zur Leerung der „Gelben Tonne“ und der Altpapier-Behälter.